3. Mai 17

Es folgt der zweite und letzte Teil dieser wundervollen Weihnachtsgeschichte an dem Tag, an dem ich den ersten blühenden Kastanienbaum dieses Jahres bewundern durfte. Die Blütenstände erinnern an Kerzen, Weihnachten ist doch da gar nicht so unpassend … . Auch wenn dieser Vergleich wirklich der Einzig sich bietende ist.

Mein schönstes Weihnachten

Zweiter Teil

Zweiter Nachbar. Das ist der asiatische Nachbar von oben. Er steht da und steht in meinem Rücken. Verständigen können wir uns nicht so wirklich, er spricht kein Deutsch, ich kein…japanisch?…chinesisch? Ist auch egal, ich spreche beides nicht. Das ist im übrigen der asiatische Nachbar, der einst – Klammer auf – meinen Keller geklaut hatte. Geklaut ist sicher nicht das Wort, wahrscheinlich bekam er beim Einzug den falschen Platz zugewiesen. Jedenfalls dachte ich damals, huch, was will denn ein rotes Tuch hinter dem Maschendrahtzaun meines Kellers. Entdecke mein Fahrrad (das einst innerhalb des Kellerraumes stand) vor seiner Wohnungstür. Schlussfolgere messerscharf. Klingele. Versuche mich zu verständigen, und dass es vielleicht sinnvoll sein könnte, er käme mal mit, um sich ein Bild bzw. unsere Hand- und Fuß- Erklärungen deutlicher zu machen. Er verschwindet ins Wohnungsinnere. Macht eine Zeichnung. Noch eine. Ich beginne das Ganze ein bisschen anstrengend zu finden. Wie kann ich mich da irgendwie rauskoppeln, in formvollendet asiatisch-diplomatischer Höflichkeit, versteht sich. Das mit dem Rauskoppeln funktioniert, mit der Höflichkeit nicht so.

Dank des einsatzkräftig- und bereiten Hausmeisters hatte ich meinen Keller (ohne Inhalt, wie ich´s von meinem asiatischen Nachbarn schon verstanden hatte: Die Sachen sind weg) bald wieder. Mein Fahrrad auch. Klammer zu.

Hier stand er nun also in meinem Rücken. Und stand und stand. Und er sagte kein Wort. Was hätte er auch sagen sollen. Und ich sagte auch nichts. Fühlte mich nur irgendwie ein Stück befreit, als er die Stufen weiter hinauf ging.

Was mich und die vorliegende Situation betrifft, so komme ich grad zu dem Schluss: Das wird so nichts. Ich rauche. Drücke die Kippe in den „XXL Wunderkerzen“ – Staub. Rufe meine Freundin an. Meinen Freund rufe ich nicht an, ich möchte das Wort „Schlüsseldienst“ nicht hören. Meine Freundin fährt in zwei Stunden Richtung Münsterland, hat noch einiges zu tun. Sie würde vorbei kommen, sie ist sehr fürsorglich! Nein, ich geh zu ihr. Ihr Zimmer ist voll mit vielen Sachen, das nervt sie von Zeit zu Zeit, mich nervt das nicht und jetzt macht mich das froh. Nimm mit, was du brauchen kannst. Eine Farbrolle? „Wenn du die Rolle ablöst, hast du einen Griff mit Haken“. Klingt nicht doof, meine Handinnenflächen sind schon wund von den Wunderkerzenenden, ich versuche, den grauen Staubbelag abzuwaschen, hält sich hartnäckiger, als ich dachte. Sie gibt mir ein ganzes Glas voller Schlüssel mit, guck, vielleicht passt einer. Meine Freundin ist manchmal schon in Räume gelangt, die verschlossen schienen. Ein kleiner alter Schlüssel ist dabei, mit schmalem Bart, dünn und blau abgeblätterter Farbe. Der passt in keinem Fall, er ist der Glücksschlüssel. Da find ich noch Peddigrohrstangen, noch Werkzeug, nimm mit, noch Klebeband (was wär mein Leben ohne Klebeband?), diese und jene Häkchen und Haken, „die kannst du am Ende anbringen und damit den Schlüssel vom Haken hebeln“. Super-Plan, ich bin total zuversichtlich, na ja, geht so. Ich melde mich, wenn ich drin bin. Ja. Wir verquatschen uns noch ein bisschen gemütlich, heller wird’s auch bald nicht, also los. Wenn ich nichts mehr sehe, ist´s gelaufen.

Keiner der aus-dem-Glas-Schlüssel passt. Glücksschlüssel bleibt trotzdem Glücksschlüssel. Blaukraut bleibt Blaukraut.

Und diese Rohr-Haken-Klebeband-Farbrollengriff-Konstruktion ist schon mal eine ganz andere Nummer! Wie Drei-Gänge-Menue gegen Fertiggericht. Hunger hab ich, vor allem Durst. Viel Schlaf war ja auch nicht. Dagegen anrauchen nur bedingt befriedigend. Ich höre jetzt den Schlüssel bei fast jedem – Eingriff?! Auch der Handrücken ist in Mitleidenschaft gezogen durchs ewige halb im Briefkastenschlitz-Gestecke.

Höre meinen Nachbarn von nebenan die Treppe hinauf atmen. Seine Frau ist im Krankenhaus. Blödes Weihnachten. Sie hat es mit den Bronchien. Das weiß ich, weil ich sie öfter hören kann. Dann wird das Licht schwächer. Ich schaff das nicht.

Stimmung schwankend zwischen an Euphorie grenzender Zuversicht und Resignation.
Komm mir vor wie eine Ärztin bei der OP am offenen Herzen. Aber offen ist hier zunächst mal gar nichts, schon gar keine Tür. Heul. Es gibt ein Zitat von William Blake: „There are things known, and there are things unknown, in between there are doors“.

Da sind bekannte Sachen und unbekannte Sachen, dazwischen sind Türen. Stimmt. Bekannt ist mir der Schlüssel. Bekannt ist mir sogar, dass er da hängt. Unbekannt ist mir momentan, wie ich rankommen soll. Und dazwischen ist eine Tür. Weiser Herr Blake. Wenn er das mit den Türen weggelassen hätte, hätte ich jetzt nicht das Problem. Blake ist Schuld. Blake gilt es zu überlisten. Dann wäre die Tür geöffnet. Der Knoten geplatzt, der Patient am Leben, der Sinn des Lebens geklärt.

Im Moment geschehen leider erst mal Gegenbewegungen, die Sicht wird trüber, die Umgebung düsterer. Dazu verschwende ich wertvolle Zeit, mach mir Gedanken über Hebelwirkung, wieso schaff ich’s nicht wenigstens, den Lichtschalter neben der Badezimmertür umzulegen mit dieser tollen Peddigrohrkonstruktion. Die Nachbarn von oben kommen nach Haus. Brauchen Sie Hilfe? Dann hör ich ihren Schlüssel im Schloss, eine Tür öffnet sich und wird geschlossen. Einfach so. Ohne Peddigrohr. Ohne bekannte und unbekannte Sachen. Ohne Blake. Das tut weh.

Können all diese unbedarften Menschen, die tagtäglich mit ihren Schlüsseln Türen öffnen und wieder schließen, sich eigentlich vorstellen, welch emotionale Dramen sich verlustbedingt in meinem Kopf abspielen? Schrei. Kreisch.

Ich geb´s auf. Erst mal rauchen. Dann saus ich zum Nachbarn hoch, frage nach

einer Taschenlampe. Er gibt mir zwei. Kleine. Sehr praktisch. Es funktioniert. Ich sehe den Schlüssel wieder. An der Stelle war ich schon mal, vor etwa 6 Stunden. Das macht Mut. Jetzt hab ich hier meine Rohrkonstruktion, dort die Lampe, und Muskelkraft wird nicht grad stärker. Zitter. Wenn ich die Schlüssel erreichen sollte und sie dann nicht am Schlüsselring das Rohr hinuntergleiten, so wie`s das Drehbuch zum Happy End vorsieht, wenn sie dann auf den Boden fallen, dann habe ich verloren. Selbstsuggestion. Positiv denken. Halbvolles Glas. Andererseits: Ich habe in den Jahren des Zusammenseins mit mir doch so einige Erfahrungen mit meiner Person gemacht, also, Frau, lass es jetzt sein, es sieht alles toll und hoffnungsfroh aus (und wenn nicht, dann reden wir´s [ich es mir] uns ein), und Morgen ist ein neuer Tag, ach, und immer wieder scheint die Sonne, und dann geht’s ausgeschlafen, mit frischer neuer Kraft und früher Vogel fängt und so ans Werk. Ich geh mir selber auf den Geist. Gefühlskonfusion.

Und Schluss mit dem Gequatsche, der Schlüssel ist jetzt dran. Lampe, Rohre, Haken, volle Restkonzentration, Gehirn aus, Handlung ein, hangel, such, schwing, ich hör was, da ist er, am Haken, Atmen einstellen – und höre noch was anderes, Zack, rausch, der Schlüssel ist am Boden. Das kann es jetzt nicht sein. 8 Stunden passiert so gut wie nichts in der Richtung, und 30 Sekunden machen des Tagewerkes Müh zunichte. Das ist nicht gerecht. Ich setz mich auf die Stufen und rauche. Und heule. Ein bisschen.

Ich verstehe mich jetzt total. Das braucht ein bisschen, diese Niederlage zu verarbeiten. Ein bisschen sind etwa 4 Minuten. Ich seh den Schlüssel nicht mehr. Wird grad nicht besser. Stochere blind nach ihm auf dem Boden herum. Im Hausflur ist` nahezu dunkel. Aufgeben, aufgeben, definitiv. Scheiße, ich trete jetzt die Tür ein, werfe mich dagegen. In Filmen können die das auch. Doch nichts dergleichen. Klaube die herumliegenden Utensilien zusammen, das sechste Mal an diesem Tag der Weg von der einen Wohnung zur anderen. Der sechste? Sind Schlüssel eigentlich magnetisch? Schlüssel sind nicht magnetisch, oder?

Mein Freund ist ein bisschen müde. Ja, Schlüssel sind magnetisch. Das gibt es nicht. Hast du einen Magneten? Er hat. Kleinere. „Wir fahren Morgen in meine Werkstatt, da hab ich einen Großen. Dann kann man’s versuchen, mit einer Angelkonstruktion.“ Und wie ist´s mit den Kleinen? Er sagt das Wort „Schlüsseldienst“ nicht mehr. Hast du Schnur? Er hat. Baut mir eine Angel. Ich mach einen Trockenversuch an seinem Briefkasten. Passt. „Aber du willst da nicht heute Abend noch mal hinfahren?“

Ich wollte nicht. Aber, so recht überlegt, ist das eigentlich eine Idee.

Weg sieben. Holzleiste, Schnur, Kleber (!), Magnet. Fahre den Boden hinter der Tür ab, ein Geräusch, der Atem stockt. Drehe die Leiste, die Schnur wickelt sich auf, und hole sie nahe heran. Ruhe jetzt, wir drehen, in Zeitlupe. In der Ruhe liegt die Kraft. Die Entdeckung der Langsamkeit. Und weiter atmen. Da ist sie. Die Erscheinung. „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Ich berühre sie. Und halt sie in der Hand. Zum Augenblicke möcht ich sagen: Verweile doch, du bist so schön!

Yes. I’m the Key-Queen. Kreisch (jetzt anders kreisch). Ok, ich komm mal wieder runter.

Die Tür öffnet sich. Tatsächlich. Drinnen sieht’s ein bisschen wüst aus,
XXL-Wunderkerzen-Grausstaub überall. Haben wir noch andere Probleme? Ich steh nun mit meinen Nachbarn nicht so eng, aber muss jetzt unbedingt drüben klingeln und deute auf die offen stehende Wohnungstür, als hätt ich grad Zeugnisnote 1 erhalten. Das hier ist besser. Er erzählt mir noch ein paar nette kleine Schlüsselverlustgeschichten. Ja, das ist lustig. Seine Frau wird auch bald wieder
da sein.

Am späten Abend gibt’s den Rest Perlhuhn. Der wartete schon auf mich. Nett von meinem Freund. Und das ein und andere Bier dazu. Es ist richtig lecker.

von Simone Ohliger

Ich danke dir Simone!!!!